Teil 1 Die Bescheidenheit. Wahrheit und Lüge – Sprechen und Schweigen.
Eine neue Figur stellt sich vor:
Ihr werdet wissen, wer ich bin, wenn ich euch meinen Namen sage, Sir. Ich heiße White.
Ja, wir wissen es, denn Mr. White hat seinen Namen ganz sicher nicht zufällig erhalten. Er ist nicht nur ein Saubermann, sondern – noch viel wichtiger – auch einer, der „weiß“. Er übernimmt als Autorität die Rolle der Identifikationsfigur für den Leser.
So seid ihr also der junge, deutsche Gentleman, der hier alle Arbeit thut, während die anderen auf der faulen Haut liegen!
Obwohl Herr Weiß damit feststellt, dass er alles weiß, versucht unser Nochnicht-Held die Tatsachen zu leugnen.
Daran tragen die Schwierigkeiten des Terrains die Schuld, und ich will – – –
Man erfährt nicht, was er will, sicherlich nur Gutes, Mr. White unterbricht ihn.
Weiß, weiß! […] Weiß leider alles. Wenn ihr euch nicht dreifach angestrengt hättet, so stände Bancroft noch da, wo er angefangen hat.
Nun kommt eine ganz unverschämte Lüge.
Das ist keineswegs der Fall, Mr. White. Ich weiß zwar nicht, wie ihr zu der sehr irrtümlichen Ansicht gekommen seid, dass ich allein fleißig gewesen sein soll, doch ist es meine Pflicht – – –
Man erfährt auch nicht, was seine Pflicht ist, der Leser wird es schon wissen – er wird wieder unterbrochen.
Still, Sir, still!
Mr. White kennt die Wahrheit.
Bis hierhin könnte man das alles noch für eine – wenn auch unangenehm scheinheilige – Demonstration von Bescheidenheit halten und Mr. White unterstützt diesen Eindruck.
Es ist sehr edelmütig von Euch, daß Ihr diese Säufer hier in Schutz nehmen wollt
Was von der Edelmütigkeit zu halten ist, werden wir später sehen. Den Mr. White können wir aber jetzt wirklich nicht mehr verstehen:
aber ich will die Wahrheit hören.
Gerade (und von Anfang an) wußte er doch noch alles Weiß, weiß! […] Weiß leider alles. und nun will er die Wahrheit hören? Aber genau das ist es, worum es eigentlich geht. Die Wahrheit muss ausgesprochen werden.
Mr. White weiß auch, dass er die Wahrheit von Charly noch nicht hören wird und versucht es anders:
werde ich nicht Euch sondern Sam Hawkens fragen
Der Versuch ist erfolgreich.
Sie erzählten ihm alles, ohne zur Wahrheit ein überflüssiges Wort zu fügen;
Mr. White, der schon alles wußte, erfährt nun wieder alles, auf die überflüssigen Worte muß er aber trotzdem nicht verzichten:
dennoch warf ich hier und da eine Bemerkung ein, um gewisse Härten zu mildern und meine Kollegen zu verteidigen,
Auch an die Verteidigung der Kollegen werden wir später noch denken.
Aber immerhin, die Wahrheit, von Beginn an nicht verborgen, wurde nun erstmalig ausgesprochen. Aber – das ist entscheidend – nicht von Charly.
Mr. White kann daher noch nicht zufrieden sein.
Dann, als er alles wußte, forderte er mich auf, ihm unsere Zeichnungen und das Tagebuch zu zeigen.
Langsam scheint sich der Erfolg einzustellen:
und als er mich danach fragte, konnte ich nicht leugnen, daß ich allein der Zeichner und Verfasser war.
Aber warum hört Mr. White nicht zu? Man kann es kaum glauben:
Aber aus diesem Tagebuch ersieht man nicht, wieviel oder wiewenig Arbeit auf den einzelnen kommt,
Nun wird aufgedeckt, dass Charly auch noch ein zweites, geheimes Tagebuch führt und Mr. White will selbstverständlich auch das noch sehen. Die Bescheidenheitsdemonstration beginnt zu bröckeln.
Was sollte ich thun? Verdienten es meine Kollegen, daß ich mich für sie plagte, ohne Dank zu finden, und dies dann auch noch verschwieg?
Natürlich nicht. Aber an der Oberfläche muss der Anschein bis zuletzt aufrechterhalten werden.
Ich wollte ihnen keineswegs schaden
Auch den Satz sollten wir uns merken.
Darum gab ich ihm mein Tagebuch, doch unter der Bedingung, daß er zu niemand von dem Inhalte spreche.
Endlich ist für Mr. White alles geklärt, für uns aber stellt sich die Frage:
Was war das? Bescheidenheit und Loyalität? Wenn hier wirklich eine Demonstration der charakterlichen Vorzüge des Helden beabsichtigt gewesen sein sollte, so ist dies offensichtlich peinlichst missraten. Aber vielleicht steckt mehr dahinter. Was könnte diesem völlig unsinnigen, aus der Handlung heraus überhaupt nicht zu verstehenden Ablauf Sinn geben?
Wo geht es darum, einen Menschen dazu zu bringen, die Wahrheit auszusagen, auch wenn sie schon bekannt ist? Wo besitzt das Geständnis eine zentrale Funktion? – Vor Gericht!
Wir haben hier eine auf den Kopf gestellte Gerichtsverhandlung. Wir haben einen Angeklagten, der die Wahrheit nicht sagen will, der überführt werden muss. Mr. White tritt als Ankläger auf und in einer zweiten Funktion als Richter (und damit als Stellvertreter des Lesers). Das Delikt, welches aufzuklären ist, besteht aus dem Tatanteil unseres Helden an den Unternehmungen der Landvermesser-„Bande“. Wie man es aus Strafprozessen kennt, versucht der Angeklagte sowohl seine Mittäter nicht zu verraten als auch seinen eigenen Tatanteil herunterzuspielen und den der anderen Bandenmitglieder aufzuwerten.
Nun wird sein Verhalten nachvollziehbar. In einem Strafprozess ist das Leugnen und Lügen bis zum äußersten nichts Ungewöhnliches. Und wenn auch alle Beteiligten die Wahrheit kennen, ist doch das Geständnis des Angeklagten von zentraler Bedeutung. Alles, was vorher wenig sinnvoll und unlogisch erschien, wird in einer Prozesssituation verständlich. Der Ablauf ist klassisch. Der Angeklagte macht Ausflüchte Schwierigkeiten des Terrains und lügt Das ist keineswegs der Fall . Nachdem klar ist, dass von dem Angeklagten so kein Geständnis zu erwarten ist, werden Zeugen vernommen. Der Angeklagte auf dem Rückzug versucht noch, die Zeugenaussagen abzuschwächen, um gewisse Härten zu mildern. Dann werden Beweise auf den Tisch gelegt, die Zeichnungen und das Tagebuch, denn wie ein echter Ganove gibt er nur das zu, was man ihm beweisen kann. Der Angeklagte beginnt zu gestehen konnte ich nicht leugnen und ist schließlich gezwungen, mit der vollen Wahrheit in Form des geheimen Tagebuchs in der Sardinendose herauszurücken. Der Angeklagte wird als Haupttäter überführt. Mr. White (und damit der Leser) verkündet das Urteil.
Eure Kollegen sind ganz unfähige Menschen, denen kein einziger Dollar mehr ausgezahlt werden sollte; Euch aber müßte man dreifach bezahlen.
Wenn man diesen Satz auf Karl May selbst (als Schriftsteller) bezieht, erhält er wohl seine eigentliche Bedeutung. |