Jetzt war der Augenblick da –
Karl May wird Old Shatterhand

Gedanken zur Landvermesser-Episode aus Winnetou 1

Von Karl Heinz Remy

Es ist Teil des Grundwissens über Karl May, dass in seinen Reiseerzählungen individuelle, aus der Biographie Mays erklärbare traumatische Komplexe[Roxin 1973] umgesetzt werden. Auf sonderbare Textstellen trifft man daher bei diesem Verfasser immer wieder. Wohl eine der merkwürdigsten ist die Geschichte, wie Old Shatterhand zu seinem Namen kommt [May 1893]. Zunächst scheinbar glatt – man kennt ja dieses Wiederkäuen von längst Bekanntem – stellt sie sich dar und man will schnell darüber hinweglesen. Auch die penetrant scheinheilige Bescheidenheit des Helden ist nicht neu, verlockt schon überhaupt nicht, anzuhalten. Aber wehe, man läßt sich dann doch auf die Einzelheiten ein.

Es beginnt auf Seite 36 mit einer Zustandsbeschreibung. Der Ich-Erzähler Charly ist Mitglied einer Gruppe von Landvermessern [vgl. May 1905], die seit drei Monaten ihrer Tätigkeit nachgeht. Zwar gibt es an den anderen Mitgliedern einiges auszusetzen: Meine Kollegen waren echte Yankees […] Sie wollten Geld verdienen, ohne viel danach zu fragen, ob sie ihre Aufgabe auch wirklich gewissenhaft erfüllten. […] sie warfen mir die schwierigsten Arbeiten zu und machten sich das Leben so leicht wie möglich. Aber es folgt sofort die Bestätigung der Stabilität Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Auch zwölf der Gruppe angehörende Westmänner, deren Funktion der Schutz der Vermesser ist, sind unerfreuliche Zeitgenossen: daß ich es mit Leuten von sehr niedrigem moralischem Range zu thun hatte […] daß hier die zwölf größten Faulenzer der Vereinigten Staaten sich ein Stelldichein gegeben hatten. Und wieder folgt ein ausdrücklicher Hinweis auf die Stabilität der Lage: Da hätte nun wohl ich allen Grund gehabt, mich der Zügel zu bemächtigen, und ich that dies auch, doch so, daß man es nicht bemerkte. […] Wäre ich so unklug gewesen, einmal im gebieterischen Tone zu sprechen, so hätte der Erfolg ganz gewiss in einem schallenden Gelächter bestanden. Nein, ich mußte leise und vorsichtig verfahren, ungefähr so wie eine kluge Frau, welche ihren widerhaarigen Mann zu lenken und zu leiten weiß, ohne daß er eine Ahnung davon hat.

Alles ist also in bester Ordnung, Charly hat alles vollständig unter Kontrolle, möglicher Konfliktstoff ist nicht auszumachen, im schlimmsten Fall droht ein "schallendes Gelächter".
Die Vermessungsarbeiten, die nun schon drei Monate andauern, werden in kurzer Zeit abgeschlossen sein.

 

Teil 1
Die Bescheidenheit.
Wahrheit und Lüge – Sprechen und Schweigen.

Eine neue Figur stellt sich vor:

Ihr werdet wissen, wer ich bin, wenn ich euch meinen Namen sage, Sir. Ich heiße White.

Ja, wir wissen es, denn Mr. White hat seinen Namen ganz sicher nicht zufällig erhalten. Er ist nicht nur ein Saubermann, sondern – noch viel wichtiger – auch einer, der „weiß“. Er übernimmt als Autorität die Rolle der Identifikationsfigur für den Leser.

So seid ihr also der junge, deutsche Gentleman, der hier alle Arbeit thut, während die anderen auf der faulen Haut liegen!

Obwohl Herr Weiß damit feststellt, dass er alles weiß, versucht unser Nochnicht-Held die Tatsachen zu leugnen.

Daran tragen die Schwierigkeiten des Terrains die Schuld, und ich will – – –

Man erfährt nicht, was er will, sicherlich nur Gutes, Mr. White unterbricht ihn.

Weiß, weiß! […] Weiß leider alles. Wenn ihr euch nicht dreifach angestrengt hättet, so stände Bancroft noch da, wo er angefangen hat.

Nun kommt eine ganz unverschämte Lüge.

Das ist keineswegs der Fall, Mr. White. Ich weiß zwar nicht, wie ihr zu der sehr irrtümlichen Ansicht gekommen seid, dass ich allein fleißig gewesen sein soll, doch ist es meine Pflicht – – –

Man erfährt auch nicht, was seine Pflicht ist, der Leser wird es schon wissen – er wird wieder unterbrochen.

Still, Sir, still!

Mr. White kennt die Wahrheit.

Bis hierhin könnte man das alles noch für eine – wenn auch unangenehm scheinheilige – Demonstration von Bescheidenheit halten und Mr. White unterstützt diesen Eindruck.

Es ist sehr edelmütig von Euch, daß Ihr diese Säufer hier in Schutz nehmen wollt

Was von der Edelmütigkeit zu halten ist, werden wir später sehen. Den Mr. White können wir aber jetzt wirklich nicht mehr verstehen:

aber ich will die Wahrheit hören.

Gerade (und von Anfang an) wußte er doch noch alles Weiß, weiß! […] Weiß leider alles. und nun will er die Wahrheit hören? Aber genau das ist es, worum es eigentlich geht. Die Wahrheit muss ausgesprochen werden.
Mr. White weiß auch, dass er die Wahrheit von Charly noch nicht hören wird und versucht es anders:

werde ich nicht Euch sondern Sam Hawkens fragen

Der Versuch ist erfolgreich.

Sie erzählten ihm alles, ohne zur Wahrheit ein überflüssiges Wort zu fügen;

Mr. White, der schon alles wußte, erfährt nun wieder alles, auf die überflüssigen Worte muß er aber trotzdem nicht verzichten:

dennoch warf ich hier und da eine Bemerkung ein, um gewisse Härten zu mildern und meine Kollegen zu verteidigen,

Auch an die Verteidigung der Kollegen werden wir später noch denken.
Aber immerhin, die Wahrheit, von Beginn an nicht verborgen, wurde nun erstmalig ausgesprochen. Aber – das ist entscheidend – nicht von Charly.
Mr. White kann daher noch nicht zufrieden sein.

Dann, als er alles wußte, forderte er mich auf, ihm unsere Zeichnungen und das Tagebuch zu zeigen.

Langsam scheint sich der Erfolg einzustellen:

und als er mich danach fragte, konnte ich nicht leugnen, daß ich allein der Zeichner und Verfasser war.

Aber warum hört Mr. White nicht zu? Man kann es kaum glauben:

Aber aus diesem Tagebuch ersieht man nicht, wieviel oder wiewenig Arbeit auf den einzelnen kommt,

Nun wird aufgedeckt, dass Charly auch noch ein zweites, geheimes Tagebuch führt und Mr. White will selbstverständlich auch das noch sehen. Die Bescheidenheitsdemonstration beginnt zu bröckeln.

Was sollte ich thun? Verdienten es meine Kollegen, daß ich mich für sie plagte, ohne Dank zu finden, und dies dann auch noch verschwieg?

Natürlich nicht. Aber an der Oberfläche muss der Anschein bis zuletzt aufrechterhalten werden.

Ich wollte ihnen keineswegs schaden

Auch den Satz sollten wir uns merken.

Darum gab ich ihm mein Tagebuch, doch unter der Bedingung, daß er zu niemand von dem Inhalte spreche.

Endlich ist für Mr. White alles geklärt, für uns aber stellt sich die Frage:

Was war das? Bescheidenheit und Loyalität? Wenn hier wirklich eine Demonstration der charakterlichen Vorzüge des Helden beabsichtigt gewesen sein sollte, so ist dies offensichtlich peinlichst missraten. Aber vielleicht steckt mehr dahinter. Was könnte diesem völlig unsinnigen, aus der Handlung heraus überhaupt nicht zu verstehenden Ablauf Sinn geben?
Wo geht es darum, einen Menschen dazu zu bringen, die Wahrheit auszusagen, auch wenn sie schon bekannt ist? Wo besitzt das Geständnis eine zentrale Funktion? – Vor Gericht!

Wir haben hier eine auf den Kopf gestellte Gerichtsverhandlung. Wir haben einen Angeklagten, der die Wahrheit nicht sagen will, der überführt werden muss. Mr. White tritt als Ankläger auf und in einer zweiten Funktion als Richter (und damit als Stellvertreter des Lesers). Das Delikt, welches aufzuklären ist, besteht aus dem Tatanteil unseres Helden an den Unternehmungen der Landvermesser-„Bande“. Wie man es aus Strafprozessen kennt, versucht der Angeklagte sowohl seine Mittäter nicht zu verraten als auch seinen eigenen Tatanteil herunterzuspielen und den der anderen Bandenmitglieder aufzuwerten.
Nun wird sein Verhalten nachvollziehbar. In einem Strafprozess ist das Leugnen und Lügen bis zum äußersten nichts Ungewöhnliches. Und wenn auch alle Beteiligten die Wahrheit kennen, ist doch das Geständnis des Angeklagten von zentraler Bedeutung. Alles, was vorher wenig sinnvoll und unlogisch erschien, wird in einer Prozesssituation verständlich. Der Ablauf ist klassisch. Der Angeklagte macht Ausflüchte Schwierigkeiten des Terrains und lügt Das ist keineswegs der Fall. Nachdem klar ist, dass von dem Angeklagten so kein Geständnis zu erwarten ist, werden Zeugen vernommen. Der Angeklagte auf dem Rückzug versucht noch, die Zeugenaussagen abzuschwächen, um gewisse Härten zu mildern. Dann werden Beweise auf den Tisch gelegt, die Zeichnungen und das Tagebuch, denn wie ein echter Ganove gibt er nur das zu, was man ihm beweisen kann. Der Angeklagte beginnt zu gestehen konnte ich nicht leugnen und ist schließlich gezwungen, mit der vollen Wahrheit in Form des geheimen Tagebuchs in der Sardinendose herauszurücken. Der Angeklagte wird als Haupttäter überführt. Mr. White (und damit der Leser) verkündet das Urteil.

Eure Kollegen sind ganz unfähige Menschen, denen kein einziger Dollar mehr ausgezahlt werden sollte; Euch aber müßte man dreifach bezahlen.

Wenn man diesen Satz auf Karl May selbst (als Schriftsteller) bezieht, erhält er wohl seine eigentliche Bedeutung.

 

Teil 2
Das Ende der Bescheidenheit.

Nachdem nun Mr. White endlich mit seinem Erkenntnisstand zufrieden ist, weckt er die Betrunkenen auf und hält dem Oberingenieur Bancroft eine Strafpredigt

Das ist ja das reine Schlaraffenleben hier gewesen, während ein einziger und noch dazu der jüngste von Euch allen, die ganze Arbeit zu bewältigen hatte!

Bancroft zieht den einzig richtigen Schluß und beschuldigt mit Recht unseren Helden.

Das habt Ihr gesagt, Ihr und kein anderer! Leugnet es einmal, Ihr niederträchtiger Lügner, Ihr heimtückischer Verräter!

Charly darf nun nicht mehr lügen. Deshalb tut dies für ihn Mr. White, der inzwischen seine führende Saubermann-Rolle abgegeben hat und zum Gefolgsmann geworden ist.

Nein […] Euer junger Kollege hat […] nur Gutes über Euch gesprochen.


Wieder ist die Wahrheit abhanden gekommen, diesmal aber ist es eine Wahrheit, die auf keinen Fall gefunden und schon gar nicht ausgesprochen werden darf. Als einziger Ausweg bleibt die Eskalation. Mr. White geht zum Angriff über.

ich rate Euch, ihn um Verzeihung zu bitten, daß Ihr ihn einen Lügner und Verräter nanntet.

Dies trägt natürlich nicht zur Beruhigung bei. Niemand kann damit rechnen, dass Bancroft diesen Rat befolgt und so nehmen die Dinge ihren Lauf. Bancroft, betrunken, beginnt Charly zu beschimpfen und der, ganz plötzlich ein völlig anderer geworden, greift nun wieder in das Geschehen ein.


Er kam nicht weiter. Ich war monatelang geduldig gewesen und hatte diese Leute nach Belieben über mich denken lassen. Jetzt war der Augenblick da, Ihnen zu zeigen, daß sie sich in mir geirrt hatten.


Das ist die Wende. Jetzt findet die Geburt von OLD SHATTERHAND statt. Die Grenze zwischen Autor und Held löst sich noch mehr auf und man darf fragen, warum gerade jetzt der Augenblick da ist. Es darf auch spekuliert werden, wer eigentlich gemeint ist mit diese Leute und ob nicht monatelang eigentlich jahrelang bedeuten soll. Jetzt war der Augenblick da, um endlich Schluss zu machen mit der aufgezwungenen Bescheidenheit, Verstellung und der Zurückhaltung aus Angst vor der Vergangenheit. Jetzt war Karl May ein angesehener Autor. Er hatte anonym, ohne Anerkennung im Stillen gearbeitet und jetzt war der Augenblick da, hervorzutreten [vgl. Wollschläger 1965].


Aber mit dem Auftauchen in der Öffentlichkeit wächst die Gefährdung durch die kriminelle Vergangenheit und die Angst. Und so muss mit äußerster Härte gegen jeden Angriff auf seine moralische Integrität vorgegangen werden. Jetzt kann man sogar davon träumen/schreiben, mit Gewalt die am Reden zu hindern, die nicht schweigen wollen.

Ich ergriff Bancroft am Arme, drückte ihn so, daß er vor Schmerz den angefangenen Satz unausgesprochen ließ, […] so wäre ich gezwungen, Euch wie einen Buben zu Boden zu schlagen. Verstanden!


Ja, wir haben verstanden. Nach dem ganzen quälenden Hinundher mit der Bescheidenheit und den endlos verlogenen, scheinheiligen Versuchen, seinen Kollegen nicht zu schaden, beherrscht schlagartig und übergangslos rohe Gewalt die Szene.


Er konnte nicht weiter reden, denn ich schlug ihm die Faust an die Schläfe, daß er steif wie ein Sack niederstürzte und betäubt liegen blieb.

Ja, wenn man betäubt ist, kann man nicht reden. Wer hätte das alles noch einige Seiten vorher voraussehen können? Der nächste bekommt einen Fußtritt in die Magengegend und noch einen Faustschlag auf den Kopf dazu und nach einer Totschlagsdrohung endet der heillose Auftritt mit Mr. White:


Man sollte Euch wahrhaftig Shatterhand nennen


Das ist wirklich die präzise Bezeichnung für diesen Helden! [vgl. May 1910]
Es ist der angemessene Name für einen brutalen Schläger, der es nicht aushalten kann, daß ein paar Betrunkene versuchen, ihn zu beleidigen, der sich gegen Worte mit Schlägen zur Wehr setzen muß.
Kurz vorher noch peinlich beflissen und verkrümmt, ein gezwungen Bescheidener, muß der Held nun als Old Shatterhand zwanghaft jede Kritik im Ansatz niederschmettern.

Er ist nicht Herr der Situation.

Sein Schöpfer war es schon garnicht.