„Der Dukatenhof“ und seine Leser
Karl May konnte, betrachtet man die o. g. Parallelausgaben seiner ersten Dorfgeschichte, schon 1879 – im ersten Jahr seiner Tätigkeit als freier Schriftsteller [vgl. Wohlgschaft 1994] – von Schlesien (Liegnitz) bis zum Rheinland (Düsseldorf, Bensberg), vom Nieder- bis zum Mittelrhein (Neviges; Boppard, Rüdesheim), von Norddeutschland (Lauenburg) bis nach Franken und Bayern (Amberg, Bayreuth, Schweinfurt, Zweibrücken), in der Pfalz (Landau) und Hessen (Kassel, Witzenhausen) gelesen werden. Zudem ist mit den nachgewiesenen Paralleldrucken das tatsächliche Verbreitungsgebiet der Schönleinschen Feuilleton-Beilage erst sehr fragmentarisch beschrieben. Die aufgespürten Drucke dürften kaum mehr als 10 bis 20 Prozent des gesamten Wirkungsbereichs ausmachen, so dass man in der Addition dieser zahlreichen lokalen Märkte bereits von einer regionalen bzw. in Ansätzen auch überregionalen Verbreitung wird sprechen können.
Zahlreiche Jahrgänge des Illustrirten Unterhaltungs-Blatts enthalten Beiträge, die May in seiner Anfangsphase als Vorbilder gedient haben können. Nicht erst durch seine Belegexemplare mit dem Dukatenhof wird der Autor auf die Beilage aufmerksam geworden sein. Beispielsweise die Beiträge Die Indianer und die Stille-Weltmeer-Bahn (Nr. 39, 1874), Die Regulatoren (Nr. 52, 1876), Indianer auf der Büffeljagd (Nr. 13, 1877), und Die Eisenbahnen im Westen Noramerika’s (Nr. 11, 1878) zeigen May-verwandte Themen und belegen, dass May sich mit seinen Themen auf die Interessen des zeitgenössischen Publikums eingestellt hat. Die diversen Jahrgänge von Schönleins Beilage enthalten darüber hinaus eine Reihe von ungezeichneten – vermutlich illegalen – Möllhausentexten, die ihrerseits wiederum als Vorbilder für May gedient haben. Aus Möllhausens Tagebuch einer Reise bzw. Wanderungen wurden etwa abgeschriebene Texte über den kalifornischen Riesenbaum, den Riesenkaktus (Nr. 21, 1881) und die Präriehunde (Nr. 51, 1879) abgedruckt. Die Schilderung der letzteren hat May dann zehn Jahre später für seinen Schatz im Silbersee verwendet
Inhaltlich war das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt also ein typisches Reis vom Stamme Schönlein. Zahlreiche Autoren, die auch für dessen andere Zeitschriften schrieben, wurden hier ebenfalls abgedruckt: J. D. H. Temme, A. Streckfuß, F. Friedrich, F. Axmann (den auch Karl May beim Verlag Münchmeyer redaktionell betreute), A. Neumann-Strela, L. Habicht, F. Lilla (der meist das Wildwest-Genre abdeckte und der ebenfalls mit Karl May in Verbindung stand), später V. Fern, J. O. Hansen, L. Hesekiel, E. H. v. Dedenroth und W. Passauer – meist also mehr oder weniger bekannte bzw. erfolgreiche Autoren von (überwiegend) Kriminalerzählungen. In diesem thematischen Umfeld hat sich May, vor allem am Beginn seiner Laufbahn, vermutlich durchaus wohl gefühlt. – Denn auch Der Dukatenhof wird von einer Kriminalhandlung umrahmt, welche die vier kurzen Kapitel zusammenhält. Deren Überschriften (1. Der Köpfle-Franz, 2. Aus vergangener Zeit, 3. Ein Gottesgericht, 4. Gesühnte Schuld) signalisieren gleichzeitig dramatische Handlung und schuldhafte Verstrickung. Das dominante Motiv beinahe aller May-Dorfgeschichten – eine böse Tat, die sich am Ende gegen den Täter selbst wendet – lässt unschwer ahnen, dass der Autor, selbst noch nicht lange aus der Haft entlassen, hier eigene Lebenswirrnisse literarisch abzuarbeiten beginnt. Andere Motive der Erzählung erscheinen auch in den späteren Kolportage- und sogar den Abenteuerromanen Mays wieder: der Bettler, der ein Doppelleben führt (man denke an die markante spätere Gestalt des Mübarek) und eigentlich reich ist (ein beliebtes Motiv in Volkserzählungen seit dem Mittelalter) [vgl. Schenda 1979]; der junge Polizist, der erfolgreich den Schmuggel im Erzgebirge bekämpft, dessen Drahtzieher reiche und/oder angesehene Zeitgenossen sind; oder auch der schwache, hier sogar verkrüppelte Held, der wunderbarerweise zum Retter nicht nur seiner selbst sondern sogar seines Todfeindes wird und die unheile Welt (wenigstens vorübergehend) wieder ins Lot bringt.
In einer weiteren Zusammenarbeit mit Schönlein hätte für May also durchaus die Möglichkeit bestanden, seine damals noch bestehende, relative lokale bzw. regionale Isolierung zu überwinden. Die Beantwortung der Frage, warum der Autor diese Möglichkeit nicht ergriff und die Zusammenarbeit mit Schönlein nach nur knapp zwei Jahren abbrach, lässt die Quellenlage gegenwärtig nicht zu. Möglicherweise hat May für den zweiten Abdruck des Dukatenhof kein weiteres Honorar erhalten (der komplette Rechteerwerb durch einmalige Zahlung und vielfache Wiederverwertung war damals allerdings noch weitverbreitete Usance) und deshalb auf eine weitere Zusammenarbeit verzichtet. Fest steht jedenfalls, dass Schönlein normalerweise anständige Honorare zahlte [Anm.] und dass seine Zeitschriften Auflagenhöhen erreichten, von denen andere Verleger Mays zu dieser Zeit, etwa Göltz & Rühling in Stuttgart oder Münchmeyer, A. Wolf oder Radelli in Dresden, wohl kaum zu träumen wagten. Das Buch für Alle hatte 1868 eine Auflage von 60.000 und 1886 von 109.000 Exemplaren [Barth 1975], von der Illustrirten Chronik der Zeit wurden 1872 172.000 Exemplare verkauft, und die Auflage der beiden Feuilletonbeilagen soll noch im Jahr 1908 nach hunderttausenden zu berechnen [Schwäbische Kronik 1908] gewesen sein.
Setzt man allein für die achtzehn oben nachgewiesenen Lokalzeitungen, denen das Illustrirte Unterhaltungs-Blatt mit dem Dukatenhof mit Sicherheit beilag, eine Auflage von jeweils 500 bis 1000 an – eine Größenordnung, die einschlägige Verzeichnisse nahelegen –, dann wäre die May-Erzählung 9000 bis 18.000 mal gedruckt worden; dabei gilt es zu bedenken, dass die Beilage diesen Blättern natürlich nicht nur zur Leserbindung, sondern auch zur Auflagensteigerung beigegeben war, und wohl schon damals (wie heute) die Wochenendausgaben bedeutend höhere Auflagen als die Wochentagsausgaben erzielen konnten. Geht man weiter davon aus, dass mindestens fünf, wenn nicht zehn oder sogar mehr [Anm.] Leser jedes Exemplar dieser Beilage zu Gesicht bekamen, dann hätte allein im Bereich der achtzehn oben angegebenen Lokalzeitungen Karl Mays erste Erzgebirgische Dorfgeschichte etwa 45.000 bis zu 180.000 oder sogar mehr Leser gefunden.
Berücksichtigt man außerdem, dass – wie gesagt – nur ein Bruchteil der tatsächlich von Schönlein belieferten Lokalblätter überhaupt nachgewiesen werden konnte und mit einer Dunkelziffer von achtzig bis neunzig Prozent zu rechnen ist, dann wären diese Zahlen noch einmal mit dem Faktor fünf bzw. zehn zu multiplizieren. Die Leserschaft hätte dann zwischen 225.000 und 1.800.000 betragen! Vor allem verglichen mit den üblichen Buchauflagen, die sich auf 500 bis 1.000 Exemplare beliefen, ist dies eine enorm große Anzahl. Karl May hatte mithin schon mit seiner ersten Dorfgeschichte zweifellos Zugang zu einem Massenpublikum.
Die Bildungsvoraussetzungen von Mays Publikum waren natürlich die der Konsumenten der Schönleinschen Blätter: Jener unzureichend alphabetisierten und weitgehend unliterarisierten Land- und Stadtbewohner, die als potentielle Käufer literarischer Erzeugnisse gerade erst am Horizont der bürgerlichen Gesellschaft aufzutauchen begannen, als nämlich neue Techniken in den 1860er Jahren eine bis dahin ungekannt preisgünstige Massenproduktion ermöglichten und damit einen ganz neuen Markt eröffneten. Zugang zu diesem Markt bot allein die Kolportage. Der im Land herumreisende Kolporteur war der Ersatz für fehlende Buchhandlungen, er überbrückte die Schwellenängste seines kaum geschulten Publikums, dessen Wünsche ihm – weil er aus derselben sozialen Schicht stammte – bestens vertraut waren. Er wartete nicht auf Leser, er machte sie, indem er sich zu ihnen hin, in ihre Lebenssphäre hinein begab. Hermann Schönlein hat die enormen ökonomischen Möglichkeiten, die sich einem findigen Zeitschriftenverleger in dieser Situation boten, konsequent genutzt und damit zugleich seinen Kunden neue Bildungsquellen erschlossen.
Auch Karl May hatte in Kindheit und Jugend zu seinem Lesestoff, außer durch die örtlichen Leihbibliotheken bzw. den Buchbestand lokaler Honoratioren, durch Kolportage gefunden. Er erwähnt jedenfalls in einem Brief an seine Eltern aus dem Jahr 1869 einen Kolporteur Müller, von dem wir früher viel gelesen haben (und dem er wohl auch seine ersten eigenen Manuskripte zur Vermittlung anvertraut hat) [May 1994], und er plante selbst in seiner Frühzeit eine Erzählung mit dem Titel Ein Colporteur [May 1971]. Als er sich von einem Literaturkonsumenten in einen Produzenten verwandelte, wusste er aus eigenem Erleben nur allzu gut, wonach die erfahrungshungrigen Seelen „junger“ – sprich neuer – Leser dürsteten. Er lieferte den Stoff, dem Schönlein das Medium bot: Beide zielten auf das gleiche, noch relativ leseunerfahrene Publikum. Der spätere Erfolg Karl Mays als Jugendschriftsteller beruht vermutlich nicht zuletzt auf dieser früh entwickelten Fähigkeit, für „Erstlesende“ – also: wenig geschulte – Leser zu schreiben [Graf 1995].
Weiterführende Fragen zu Autoren, Publikum und Verlegern der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts müssen hier anknüpfen: Haben die Texte inhaltlich oder strukturell auf die besonderen Bildungsvoraussetzungen ihres Publikums reagiert? Wo sind Kontinuitäten bzw. Brüche zur mündlich überlieferten Literatur zu beobachten [Anm.]? Lassen sich Erfolge bzw. Misserfolge zu diesem Komplex in Beziehung setzten? Welchen Einfluss auf die Form der Erzähltexte hat das vermittelnde Zeitschriftenmedium? Wie ist der soziale Werdegang von Autoren, von Verlegern? (Gab es eine „soziale Promotion“ durch Literatur?) Welche anderweitigen (geistigen, materiellen) Gewinne/Verluste sind bei Lesern, Autoren, Verlegern zu verbuchen? Wie wurden die Vermittlungsprozesse in diesem sich dynamisch entwickelnden Bereich gesamtgesellschaftlich wahrgenommen? Gab es Kritik? Wurden Veränderungen integrativ, abgrenzend oder ausgrenzend besprochen? Haben moderne Produktionsbedingungen auch moderne (Lese-) Haltungen hervorgebracht? Gab es eine „populäre Öffentlichkeit“ oder eher populäre Öffentlichkeiten?
Redaktionelle Nachbemerkung:
Frühere Versionen dieses Aufsatzes enthielten unter der Ziffer P 12 noch folgenden Eintrag:
P 12
Illustrirtes Unterhaltungs-Blatt
[Wöchentliche Beilage zum] Anzeiger für die Kantone Landau, Annweiler und Bergzabern.
Verlag Kaußler in Landau. [Anm.]
Robert Ciza hat mir dankenswerterweise am 3. März 2023 nebenstehenden Bildbeleg der tatsächlichen Unterhaltungsbeilage zur Verfügung gestellt, die erkennbar nicht aus dem Hause Schönlein stammte. Wolfgang Hermesmeier
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