Kolportagespott – Rechtschreibspott
Der Spott des Theaterautors Benedix über die Bildungsquellen seines literarischen Kutschers, der angeblich Klugheit und Weltkenntnis aus dem erwähnten Roman gewonnen hat, hatte vielfältige gesellschaftliche Entsprechungen. Der Dresdener Bibliograph Dr. Julius Petzholdt beispielsweise schrieb 1873, die Werke der Kolportage seien „meist nur auf einen geistig sehr untergeordneten Leser- und Kundenkreis berechnet[]“, es handle sich um Verdummungslitteratur [Petzholdt 1873]. Petzholdt stellte damit, wie seit den Zeiten der Volksaufklärung immer wieder üblich, soziale Unterbürgerlichkeit mit geistiger Unterentwickeltheit bzw. Ungebildetheit in eine unmittelbare Beziehung. Mit diesen Bemerkungen kamen nun jedenfalls endgültig auch die Leser in den Blickpunkt einer Abwertungskampagne, die sich in den Jahren und Jahrzehnten zuvor noch vorwiegend gegen die Kolporteure, also die Überbringer der Ware, gerichtet hatte. Die Spalten des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel – das vorwiegend als Organ für die Interessen der Sortimentsbuchhändler fungierte, die im Kolportagevertrieb häufig eine unzulässige und unqualifizierte Konkurrenz erblickten –, sind in jenen Jahrzehnten voll von Beispielen für diese Abwertungskampagne. Beispielsweise schreibt dort 1872 ein „A. K.“:
Wir prognosticiren daher auch dem Colportagegeschäft, das jetzt so üppig ins Kraut geschossen ist, keine gesunde Dauer und Zukunft. Es liegt das in der Natur der Sache, namentlich in der Natur der Colporteure. Trotz aller hohen Vortheile, Freiexemplare und Gratishefte wirft die Colportage doch nicht so viel ab, daß ordentliche, solide Menschen sich diesem vielfach demüthigenden Berufe […] widmen werden. Die meisten Colporteure sind daher zweifelhafte, in andern Berufsarten verunglückte Menschen, die ihre Sache auf nichts gestellt haben und bei guter Gelegenheit durchbrennen. [Börsenblatt 1872]
Eine solche geradezu hämische Haltung zu einem Handelszweig, der immerhin bereits fast ebenso lange existierte wie Druckereien oder Buchhandel, ist nicht allein zu erklären mit dem Realgehalt der zahlreichen Klagen über windige Kolporteure. Vielmehr verbinden sich hier länger verwurzelte soziale Vorbehalte und aktuelle ökonomische Ursachen zu einem dichten Netz sozialer Minderachtung, mit dem unliebsame ökonomische und ideologische Konkurrenz diskreditiert werden sollte.
Durch die industrielle und demographische Revolution [Nipperdey 1983] der ersten Jahrhunderthälfte und die verstärkte Binnenwanderung vom Land in die Städte fanden viele Menschen in den angestammten, handwerklich-bäuerlichen Arbeitsbereichen kein ausreichendes Einkommen mehr. Dies begünstigte die Entstehung neuer Berufszweige – wie etwa auch den des Kolporteurs bzw. Romankolporteurs. Gleichzeitig wurde der Druck auf jene traditionellen Produktions- und Handelsbereiche immer stärker, die sich bislang noch relativ wirksam gegen das Hereindringen fachfremder Arbeitskräfte hatten abschotten können. Die preußische Regierung reagierte im Jahr 1868 auf diesen demographischen und sozialen Druck mit dem – damals sogenannten – „Notgewerbegesetz“, das zunächst für Preußen und wenig später dann für den gesamten Raum des Deutschen Reiches eine weitgehende Gewerbefreiheit garantierte [vgl. ausführlich Scheidt 1994]. In Sachsen war die Gewerbefreiheit bereits einige Jahre früher eingeführt worden, was den sächsischen Kolportageverlegern einen wertvollen Zeit- und Erfahrungsvorsprung vor ihren Kollegen im restlichen Deutschland sicherte. Für Buchhändler und Drucker hieß das, dass nun auch ungelernte Kräfte sich in diesem Metier betätigen konnten, das noch stark von einem elitär-ständischen Selbstverständnis geprägt war. Das Erscheinungsbild ganzer Berufsgruppen – von den Autoren [vgl. May 1910] über die Hersteller, Drucker, Buchhändler und Verleger bis schließlich zum Lesepublikum –, wurde von nun an zunehmend mitbestimmt von „unzünftigen“ Mitbewerbern und Kollegen, die teils nicht einmal das Alphabetisierungs-, geschweige denn das Literarisierungs- oder Bildungsniveau der Alteingesessenen vorzuweisen hatten [vgl. Spörri 1987].
Gegen diese unliebsame Konkurrenz, die von den Arrivierten und Alteingesessenen – den niedergelassenen Buchhändlern – ironisch als „Notgewerbekollegen“ bezeichnet wurde, kam es von Seiten des Sortimentsbuchhandels immer wieder zu polemischen Attacken. Das Börsenblatt publizierte in diesen Jahren des Umbruchs häufig Beispiele von „Curiosa“, welche die angeblich mangelnden Fähigkeiten oder fragwürdigen Geschäftspraktiken der neuen Kollegen illustrieren sollten. So hieß es [am 23. Dezember] 1868 voller Spott über das bunte Sortiment eines „Notgewerbekollegen“:
In Dresden existirt ein College, dessen Firma bis jetzt wohl nur Wenige kennen; dieselbe verdient aber bekannter zu werden, und darum folgt sie hier: „Ludwig Bratfisch, Buch-, Kunst-, Musikalien-, Nadler- und Spielwaaren-Handlung, Kittanstalt, und Drathflechterei (!)“.
Im gleichen Jahr etablierten sich, ebenfalls in Dresden, zwei weitere „Notgewerbekollegen“ als Kolportagefirma, ein ehemaliger Schneider und ein Ex-Zimmermann: die beiden Brüder Heinrich Gotthold und Fritz Louis Münchmeyer. Der eine soll von sich selbst gesagt haben, dass er zehnmal gescheidter sei als alle anderen Leute [May 1905], dadurch sei auch der andere ein reicher Mann geworden . Tatsächlich firmierte Fritz Louis Münchmeyer eine zeitlang als Gutsbesitzer [Börsenblatt 1870]. Für den sozialen Hintergrund dieses neu entstehenden Kolportagegewerbes ist jedenfalls die sarkastische Beschreibung, die Karl May in späterer Zeit von seinen beiden Verlegern gab, sehr aufschlussreich:
Dass der „Heinrich“ ein Zimmergeselle und der „Fritz“ ein Schneidergeselle gewesen war, wurde bereits gesagt. Sie stammten vom Lande. Was sie konnten, hatten sie in der Dorfschule gelernt. „Heinrich“ hatte seine weitere Ausbildung, besonders „das Feine“, den damals vielgelesenen Kolportageromanen „Die Gräfin mit dem Todtenkopfe“ u. s. w. [Kosch/Nagl 1993 weisen diesen Titel nicht nach!] entnommen. Er hatte auf dem Dorfe Tanzmusik gemacht, Klappenhorn geblasen, Violine gegeigt und einige Zeit beim Militär gestanden. Er strebte sowohl nach Bildung, wie auch nach Geld, besonders durch Kloster-, Gespenster-, Ritter-, Räuber-, Mord- und Liebesromane. Darum wurde er Kolporteur. [May 1905]
Trotz all seiner späten, durch endlose Prozesse bewirkten Distanz des Autors zu seinen früheren Brotherren [May 1905], bleibt doch in diesen und anderen Sätzen auch eine gewisse heimliche Sympathie für deren unbändigen Aufstiegs- und Bildungswillen spürbar, in dem May, der ja gleichfalls die Literatur als Vehikel zur sozialen Promotion benutzte, seine eigenen Ambitionen wenigstens partiell wiedererkannt haben dürfte. Insofern kommt seinen implizit formulierten Aussagen über die Bildungsvoraussetzungen der Romankolporteure und ihres Publikums sowie über die Vermittlung, Rezeptionsweise (der Kolporteur kennt ganze Reden aus den Romanen auswendig!) und Funktion der Kolportageromane ein bedeutender dokumentarischer Stellenwert zu. May beschreibt implizit wichtige soziale Bedingungen für den Erfolg des neuen Mediums Kolportageroman.
Für die weitere Geschichte der populären Lesestoffe ist besonders interessant, dass mit diesen sozialen Umwälzungen auch eine Textsorte entstand oder doch zu neuen Ehren kam, die sich als Rechtschreib-Spottbrief bezeichnen lässt. Im Rahmen der erwähnten Spottkampagne des Börsenblattes über die Notgewerbekollegen wurden auch immer wieder (Geschäfts-) Briefe von Kolporteuren oder kleinen Buchhändlern abgedruckt, deren zum Teil eklatante orthographische, sprachliche u. a. Fehlerhaftigkeit dem bürgerlichen Buchhandel die Unfähigkeit der neu ins Gewerbe drängenden sozialen Gruppen beweisen und zugleich natürlich den eigenen Korpsgeist stärken sollte. Unter der Überschrift „Wie sich ein neuer preußischer Noth-Gewerbe-College über das Colportagewesen äußert“, wurde beispielsweise 1868 das reichlich fehlerhafte Schreiben eines Kolporteurs dokumentiert, der sich nach einer bereits mehrjährigen Tätigkeit erstmals mit dem Sortimentsbuchhandel in Verbindung setzt [Börsenblatt 1868]. Neben diesen realen Briefen mit Rechtschreibmakeln gibt es die literarischen. Auch bei Karl May und zahlreichen anderen Autoren findet sich diese Textsorte des Rechtschreib-Spottbriefes, und zwar nicht zufällig häufig in Kolportageromanen. Im schon öfter erwähnten Verlornen Sohn etwa, der mit seinen vielfältigen Verweisen auf schriftstellerische Profession geradezu als eine Art Karriereentwurf seines Autors gelesen werden kann [vgl. Graf 1994], erhält ein Totengräber den alljährlichen Brief seines Sohnes, der als Hausknecht in der Residenz beschäftigt ist. Der Brief bleibt zunächst ungeöffnet liegen: Da der Schreiber desselben keineswegs zu den ‚Helden der Feder‘ gehörte, und weder der Todtengräber noch seine Frau gelernt hatten, egyptische Hieroglyphen zu entziffern, so hatten sie sich hierbei stets auf fremde Hilfe verlassen müssen. [May 1884–86] Die mangelnde Lesefähigkeit wird freilich von der Figur nicht eingestanden, sondern hinter dem Vorwand, die Brille verlegt zu haben, versteckt. May baut den Brief, in dem es von Rechtschreibfehlern nur so wimmelt, komplett in seinen Kolportageroman ein. Wortwahl, Satzstellung und Schreibweise deuten auf einen noch starken Einfluss mündlicher, dialektal gefärbter Kommunikation hin [May 1884–86].
Funktion und Wirkung der Rechtschreib-Spottbriefe im Börsenblatt und desjenigen bei May sind allerdings sehr verschieden – schließlich handelt es sich bei dem einen um einen „realen“, bei dem anderen um einen fiktiven Text. Im Börsenblatt wird er als denunziatorisches Propagandamittel zur Wahrung der sozialen und ökonomischen Vormachtstellung eines Berufsstandes benutzt, bei May dient er als literarisch-humoristisches Zwischenspiel, ganz ohne bösartige Untertöne, das zudem ein wichtiges Glied in der Handlungs- und Aufklärungskette der Kriminalhandlung darstellt.
Auch Friedrich Gerstäcker hat in seinem Mini-Briefroman Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange (vor 1853), der insgesamt aus vierzehn Briefen von sieben Schreibern besteht, vier Briefe verwendet, auf welche die Gattungsbezeichnung Rechtschreib-Spottbrief zutrifft.
Dennoch charakterisieren auch die von May geschilderten sozialen Umstände in ihren verschiedenen Komponenten durchaus realistisch den Bildungsstand der Bevölkerungsmehrheit der Zeit: Die beiden Totengräber des Dorfes sind Analphabeten, doch der Schmied, der zu den Bessergestellten der Gemeinde gehört, kann lesen und stellt diese Fähigkeit als Vorleser nachbarschaftlich zur Verfügung. Der als Hausknecht tätige Sohn des schreib- und leseunkundigen Ehepaares zählt zur Generation der Neu-Alphabetisierten, doch sind auch seine in nur wenigen Volksschuljahren erworbenen Fähigkeiten durchaus mangelhaft und gehen über einige Elementarkenntnisse nicht hinaus. Die kleinbürgerliche-proletarische Leserschaft, der May diese Umstände und den Brief in Kolportageheftform präsentierte, konnte darin sicher zu einem hohen Prozentsatz eigene Defizite erkennen – und darüber lachen.
Die Alphabetisierung in Deutschland hatte zu Beginn der 1880er Jahre, als May seine Kolportageromane zu schreiben begann, immer noch keinen solchen Stand erreicht, dass man als Autor überall mit einer allgemeinen und weitgehenden Lese- und Schreibfähigkeit hätte rechnen können. Mangels gesicherter Daten und repräsentativer Untersuchungen sind zwar für den deutschen Sprachraum alle Angaben zum Alphabetisierungsstand zunächst einmal mit Vorsicht zu genießen. Doch auch an diesem Punkt sind die wenigen Daten, die Rudolf Schenda dazu bereits vor dreißig Jahren mitgeteilt hat, bislang nur wenig ergänzt worden. Im deutsch-sprachigen Gebiet (ohne Österreich und Schweiz) gab es 1871 mindestens noch 10% Analphabeten unter den mehr als Zehnjährigen… [Schenda 1977], in Ost- und Westpreußen sogar rund 35%. Bedenkt man neben diesen Analphabetenzahlen die 5 bis 15% Angehörige des (Bildungs-) Bürgertums, die für eine Kolportageromanlektüre kaum in Frage kamen, so verbleiben als potentielle Kunden des neuen Lesemediums für den Zeitraum um 1880 in Deutschland etwa 60 bis 70% der Bevölkerung. Von diesen dürfte allerdings mindestens die Hälfte, mithin etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, zur Generation der Erstalphabetisierten gehören, deren Eltern noch weitgehend Analphabeten waren und die selbst nur wenige Jahre Volksschule genossen hatten. Der Kolportageroman traf also auf ein unzureichend alphabetisiertes, weitgehend illiterates Publikum, das sich sowohl sozial als auch bildungsmäßig in einer Schwellensituation befand: dem Mobilitätsdruck bezüglich Wohnort und Beruf entsprach ein intellektueller Veränderungsdruck. Stadt und Land, Handwerk und Industriearbeitertum, Analphabetismus und Literarisierung gestalteten sich für die meisten Zeitgenossen zu nebeneinander bestehenden Erfahrungsbereichen, deren vielfältiges und komplexes Bezugssystem mit erhöhter Sensibilität wahrgenommen wurde. Dem durchschnittlichen Kolportageromanleser waren mündliche Formen des Erzählens, von der Predigt bis zu Anekdote, Witz und Märchen, noch ebenso vertraut wie gänzliche Schreib- und/oder Leseunfähigkeit. Lese- und Schreibfähigkeit war zwar schon längst kein Privileg einiger Weniger mehr, aber auch längst noch nicht überall selbstverständliches und allgemeines Kulturgut. Vor diesem Hintergrund bilden die erwähnten Rechtschreib-Spottbriefe eine subtile Form des Analphabetenschwanks [vgl. Moser-Rath 1977], die ihren humoristischen Funken aus einer noch unzureichenden, auf einer frühen Stufe des Lernprozesses verharrenden Alphabetisierung bzw. Literarisierung zu schlagen versuchen.
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