Literarisierung durch Kolportageromane

Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines neuen Massenmediums im 19. Jahrhundert. (Beispiel: Karl Mays „Verlorner Sohn“)

Von Andreas Graf
„Hole Euch der Teufel! Ich bin kein Freund von Euren Dorfgeschichten!“
„O, es ist keine Dorf-, sondern eine Räuber- und Schlossgeschichte, die Ihnen sehr gefallen wird.“ May 1884–86


Bänkelsang und Kolportageroman

Die Frage nach dem Publikum – und damit nach der Kommunikationsstrategie – der seit etwa 1860 verstärkt produzierten Kolportageromane hat bislang meist mehr oder weniger pauschale Antworten gefunden. Ein Kenner der Materie schrieb vor einiger Zeit: „Die meisten Leser waren Fabrikarbeiter und Dienstboten.“ [Jäger 1991] Zur soziologischen Zu­sam­men­set­zung der Käufer- und Leserschaft dieser besonderen Literaturform, zur Lese­mo­ti­va­tion der Zielgruppe sowie zur literarisch-kommunikativen Zurichtung dieses ganzen neuen Mediums ist darüber hinaus bislang wenig Differenziertes bekannt geworden. Im Folgenden sollen am Beispiel eines der sicher interessantesten Kolportageromane – Der Verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends, den Karl May in den Jahren 1884 bis 1886 für den Verleger Münchmeyer in Dresden verfasst hat – einige Aspekte einer möglichen literatur­so­zio­lo­gi­schen und medienspezifischen Deutung von Kolportageromanen vorgestellt und diskutiert werden.

Kolportageromane wurden in meist wöchentlichen Lieferungen von Hausierern von Haus zu Haus getragen; Mays Verlorner Sohn beispielsweise erschien in 101 Lieferungen zwischen August/September 1884 und August/September 1886. Ein interessantes zeitgenössisches Zeugnis aus dem Lebensbericht des Arbeiters Moritz Theodor William Bromme, dessen Karriere als Kolporteur mit eben diesem Werk, Karl Mays drittem, für den Dresdener Kol­por­ta­geverleger Münchmeyer geschriebenen Roman begann, bestätigt sowohl die be­son­dere Zugkraft dieses Kolportageromans als auch die oben zitierte Einschätzung zum Publikum:


Tag für Tag lief ich mit meiner schweren Tasche unter dem Arm in der Stadt herum. Treppauf, treppab. Alle drei Wochen kam etwas „Neues“ heraus. „Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends“ war mein erster Roman, den ich auslegte, Ich bekam darauf ca. 50 Abonnenten. [Diese bestanden ausschließlich aus] Arbeitern und Arbeiterinnen. [Bromme 1904]
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In seinem Einakter Die Dienstboten (1854) verspottet Ro­de­rich Benedix, der zu den meistgespielten Thea­ter­au­to­ren des 19. Jahrhunderts gehörte, u. a. einen Kutscher, der ein Buch liest mit dem typischen Ritter-, Räuber- und Kol­por­ta­ge­ti­tel Ritter Udo von der Habichtsburg oder die Ge­heim­nis­se der Mitternacht [Benedix 1875]. Typisch ist die suggestive Doppelstruktur dieses Titels mit der Konjunktion „oder“. Auch Karl May hatte diese Struktur nicht nur im Verlornen Sohn, sondern schon in seinem ersten Münchmeyer-Ro­man Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde realisiert. Kolportageromane anderer Autoren trugen Titel wie Die Totenfelder von Sibirien oder die Geheimnisse des russischen Kaiserschlosses oder Die Geheimnisse von Berlin, oder: In den Höhlen des Elends [vgl. ausführlich Kosch/Nagl]. In diesen Titeln werden oft zwei Personen, Gegen- oder Um­stän­de in hartem Kontrast einander gegenüber gestellt und mit der kalkulierten Unschärfe der Konjunktion „oder“ verbunden; dem Leser soll eine deutliche Vorahnung vermittelt werden von der ganzen Wucht des affektiven Aufruhrs [Braungart 1985], den der vollständige Roman zu vermitteln in der Lage ist. Dabei bleibt stets unklar, inwieweit die beiden – nur von einem kleinen sprachlichen Scharnier zusammengehaltenen – Flügel der Ti­tel­kon­struk­tion sich wirklich entsprechen oder nicht;Illu2 ob also die ge­gen­über­gestellten Begriffe sich auf die gleichen Umstände oder Personen beziehen und damit einander inter­pre­tie­ren, oder ob gänzlich Unterschiedliches gemeint ist, das in der Handlung kaum oder garnicht miteinander zu tun hat. Bereits Rudolf Schenda hatte in seinem bahnbrechenden Werk „Volk ohne Buch“ seinerzeit darauf hingewiesen, dass der Text häufig überhaupt nicht hielt, was die Titel versprachen [Schenda 1977]. Man hatte es – die moderne Ter­mi­no­lo­gie sei erlaubt – nicht selten mit raffiniert kal­ku­lier­ten Mogelpackungen zu tun; und noch so manche Head­line der aktuellen Boulevardpresse wird nach dem glei­chen Strickmuster entworfen: Vorausdeutungen, die in­halt­lich leer bleiben, bewusst gelegte falsche Fährten, scheinbar willkürliche, in Wirklichkeit jedoch hoch­be­wusst formulierte, paradoxe Begriffsverbindungen. Dabei durchweht viele der Titel (worauf schon Ernst Bloch hingewiesen hat) ein merkwürdiger, leiser Hauch von Revanche und Erlösung. Nicht selten ist der zweite Teil eines Titels verstehbar als ein Hei­lungs­ver­spre­chen: Fast stets wird etwas gerade gerückt, ins Lot gebracht, berichtigt, wiedergutgemacht oder belohnt, das im ersten Titelteil schief geraten, ins Unrecht gesetzt, verletzt oder sonstwie aus der Fassung geraten ist: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends

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Angesichts dieser doch recht eigentümlichen Titel-Cha­rak­teristika, die natürlich ihrerseits auf inhaltliche Ent­sprechungen verweisen, fällt dem Beobachter ein Zu­sam­menhang auf, der, soweit ich sehe, in der For­schungs­literatur noch nirgends erwähnt oder näher beschrieben worden ist: die bemerkenswerte literarisch-iko­no­gra­phi­sche Verwandtschaft von Kolportageroman und Bän­kelsang. (Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Ritter- und Räuberromane der ersten Jahrhunderthälfte – eine Tatsache, die auch für die Medienbiographie Karl Mays von einiger Bedeutung ist, hier aber zunächst un­be­rück­sich­tigt bleiben muss.) Die gleiche Titelstruktur wie im Kolportageroman findet sich nämlich auf zahlreichen Mo­ri­ta­ten­ta­feln und Bänkelsangheftchen des 19. Jahrhunderts. Dies zeigt leicht ein Vergleich des Hefttitels, der am Beginn der Bände des Verlorne Sohn-Reprints abgebildet ist, mit den Faksimiles der Heftchentitel bei [Braungart 1985/Kohlmann 1982]: Das erwachte Gewissen oder eine Raben­mutter; Im Tode vereint oder: Treu ist die Soldatenliebe; Der Wildschütz oder: Der bestrafte Frevler; Die verstoßene und schwergeprüfte Milda, oder: Gott verlässt die Seinen nie,/Das Va­ter­aug’ bewachet sie oder Die Kinder des Verschollenen oder: Eine Rabenmutter und Traurige Weihnachten oder: Die neun eingeschneiten Schulkinder. Hier griffen die Roman­au­to­ren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts also offenbar auf bekannte, dem Publikum seit vielen Jahrzehnten aus anderen medialen Zusammenhängen vertraute und sehr er­folgreiche populäre Literaturformen und -muster zurück und übertrugen sie auf ihr neues Medium. Der Bänkelsang war zu dieser Zeit längst, wozu sich der Kolportageroman gerade entwickelte: eine Subgattung des Sensationsgenres, die durch einen erheblich forcierten Berichtsstil, in enger Verschränkung mit plakativem bildnerischem Beiwerk, der modernen Enthüllungsliteratur neue Erzählmöglichkeiten verschaffte. Vorbild für beide waren of­fen­bar wiederum Bauprinzip und Emblematik barocker Trauerspiele, die für ihre schlichten Botschaften Darstellung und Erklärung stets gemeinsam präsentierten und dem Hand­lungsverlauf die Nutzanwendung auf den Fuß folgen ließen [Braungart 1985]. (Die erwähnten Ritter- und Räuberromane der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten in diesem Zu­sam­men­hang mindestens zeitlich eine gewisse, in Karl Mays konkretem Fall sogar eine biographisch-faktische Vermittlungsfunktion inne.) Wie der Bänkelsang, so lebt auch der Kolportageroman in gewisser Weise noch von diesem voraufklärerischen moralischen Prin­zip: (abenteuerlicher) Handlungsverlauf und (idealistische) Nutzanwendung.

Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang die inhaltlichen und formalen Parallelen von Kolportageroman und Bänkelsang-Heftchen mit der in Brasilien heute noch lebendigen Literatura de Cordel [vgl. Vonderau/Kutscher 1992]. Die Über­ein­stim­mun­gen dieser aktuellen Volksliteratur des Sertão mit den besprochenen europäischen Gattungen des 19. Jahrhunderts reicht von der ikonographischen Struktur der Titelblätter der Folhetos (Heftchen) über die sensationellen, er­bau­lichen oder sentimentalen Inhalte, den Vertrieb auf Märkten oder durch Hausierer, ihre Begleitung durch Musik und den Vortrag mit Gesang bis zum ebenfalls kaum oder garnicht alphabetisierten Publikum. Auch die Situation der Dichter, Sänger und Holzschneider scheint der europäischen vergleichbar zu sein. Der einzige, aber wesentliche Unterschied ist der des Verlages: Die brasilianischen populären Lesestoffe erscheinen im Selbstverlag. Produktion und Verkauf verbleiben dort vollständig in den Händen der Autoren, während in Europa die großen Kol­por­ta­ge­ver­la­ge diese übernommen hatten.

Mit dem neuen Medium der Romankolportage wurde für solcherlei historisch virulente Botschaften ein noch breiteres und damit neues Publikum gewonnen; gleichzeitig er­schlossen die Kolportageromane auch dem Lesen als einer allgemeineren, das Bürgertum überschreitenden Praxis weitere Räume. Anders nämlich als der Bänkelsänger, dessen Darbietungen nur zufällig bzw. mit längeren Abständen zwischen einzelnen Jahrmärkten beigewohnt werden konnte (und dessen dünne Heftchen entsprechend bald „ausgelesen“ waren), anders auch als die früheren Ritter- und Räuberromane, die man lediglich Band für Band der Leihbibliothek entnehmen konnte, kam der moderne Romankolporteur mit seinen Nachlieferungen einmal – in manchen Gegenden sogar zweimal – wöchentlich ins Haus. Der Lesekonsum blieb auf diese Weise nicht mehr prinzipiell gebunden an eine auch gestisch unterstützte Aufführung – wenngleich in den Anpreisungen und Werberufen der Romankolporteure für ihre Ware und in ihrer sozialen Funktion als Boten und wandelnde Zeitungen durchaus weiterhin eine Art bänkelsängerische Darbietung erkennbar bleibt. Das Zufällige des Lesens konnte auf diese Weise in der zweiten Jahrhunderthälfte einer potentiellen Regelmäßigkeit weichen; der zwangsläufig akzidentielle Text- und Bil­der­kon­sum früherer Zeiten wurde überführt in eine gewisse, (markt-) mechanisch gesteuerte regelmäßige Lektüre. Damit entwickelte sich nun auch der Markt für Volkslektüre, bislang ein eher dünnes Segment des gesamtökonomischen Kuchens – die Hausierer der älteren Zeit trugen gewöhnlich außer populären Lesestoffen von Schuhbändern bis Spielkarten so ziemlich jeden Kleingegenstand des täglichen Bedarfs in ihren Kisten mit sich herum [Franzos 1990] –, zu einer gezielt ansteuerbaren und damit profitablen Region im wirt­schaft­li­chen Kosmos. Mit der sequentiellen Regelmäßigkeit des Absatzes, welche die im Wo­chen­rhyth­mus erscheinenden Romankolporteure garantierten, gewann dieser Markt überhaupt erst eine festere und verlässliche Struktur, die ihn auch für Spekulanten oder größere Investoren finanziell interessant machte. Die exorbitanten Auflagen und wohl auch Ge­winne mancher Kolportageverleger, von Mosse in Berlin bis Münchmeyer in Dresden, sind Ausweis dieser Entwicklung.

Dabei wandelten sich Funktion und Inhalt des Kolportageromans im Vergleich zum Bän­kelsang zunächst wenig: Analog zu den Moritaten spielten dort Mordtaten ebenso eine wesentliche Rolle wie das dichte Nebeneinander von Affektaufruhr und sozialer Kon­so­la­tion. Wie die Bänkellieder und -geschichten bestanden die Kolportageromane aus formel­haften Versatzstücken, die in einer Montage aus längst tradierten Erzählmotiven und stets wiederkehrenden Handlungsverläufen zusammen fanden und damit das stoffliche und motivliche Beharrungsvermögen populärer Medien perpetuierte. Auch die Verwandtschaft des Bänkelsangs mit der Erbauungsliteratur ließe sich vermutlich im Kolportageroman wiederfinden. Sogar die graphische Gestaltung der Heftumschläge vieler Kolportageromane war deutlich beeinflusst von der Titelblattaufmachung in den Bänkelsangheftchen: Einen in verschiedenen Buchstabentypen über mehrere Zeilen unterschiedlicher Größe laufenden Worttitel, der die obere Hälfte des Blattes einnimmt, ergänzt auf der unteren Hälfte ein primitiver Holzschnitt. Dadurch entsteht nunmehr auch optisch eine Doppelstruktur, die das Kontrastgeflecht des zweifachen Worttitels ein zweites Mal verdoppelt und ins Bild setzt. Selbst noch das deiktische Moment des Bänkelsängers, der mit seinem Stock auf jene Abbildung der Bänkelsangtafel weist, von der in seinem Lied gerade die Rede ist, findet sich im Kolportageroman in einer Schwundform aufbewahrt. Als es in Mays Verlornen Sohn von dem eingesperrten Robert Bertram heißt: Der Gefangene war wirklich an Arm und Fuß mittelst einer starken Kette an die Mauer gefesselt [May 1884–86], wird diese Stelle mit einer Fußnote versehen, in der es heißt: Siehe die Abbildung auf dem Heftumschlage! Wer als Leser darob zurückblättert, findet auf dem Heftumschlag dann tatsächlich das betreffende, die Beschreibung verdoppelnde und damit die „Wirklichkeit“ des Geschilderten zusätzlich beglaubigende Bild.

 

Kolportagespott – Rechtschreibspott

Der Spott des Theaterautors Benedix über die Bildungsquellen seines literarischen Kutschers, der angeblich Klugheit und Weltkenntnis aus dem erwähnten Roman gewonnen hat, hatte vielfältige gesellschaftliche Entsprechungen. Der Dresdener Bibliograph Dr. Julius Petzholdt beispielsweise schrieb 1873, die Werke der Kolportage seien „meist nur auf einen geistig sehr untergeordneten Leser- und Kundenkreis berechnet[]“, es handle sich um Verdummungslitteratur[Petzholdt 1873]. Petzholdt stellte damit, wie seit den Zeiten der Volksaufklärung immer wieder üblich, soziale Unterbürgerlichkeit mit geistiger Un­ter­ent­wickelt­heit bzw. Ungebildetheit in eine unmittelbare Beziehung. Mit diesen Bemerkungen kamen nun jedenfalls endgültig auch die Leser in den Blickpunkt einer Ab­wer­tungs­kam­pagne, die sich in den Jahren und Jahrzehnten zuvor noch vorwiegend gegen die Kolporteure, also die Überbringer der Ware, gerichtet hatte. Die Spalten des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel – das vorwiegend als Organ für die Interessen der Sor­ti­ments­buch­händ­ler fungierte, die im Kolportagevertrieb häufig eine unzulässige und unqua­lifizierte Konkurrenz erblickten –, sind in jenen Jahrzehnten voll von Beispielen für diese Abwertungskampagne. Beispielsweise schreibt dort 1872 ein „A. K.“:


Wir prognosticiren daher auch dem Colportagegeschäft, das jetzt so üppig ins Kraut geschossen ist, keine gesunde Dauer und Zukunft. Es liegt das in der Natur der Sache, namentlich in der Natur der Colporteure. Trotz aller hohen Vortheile, Freiexemplare und Gratishefte wirft die Colportage doch nicht so viel ab, daß ordentliche, solide Menschen sich diesem vielfach demüthigenden Berufe […] widmen werden. Die meisten Colporteure sind daher zweifelhafte, in andern Berufsarten verunglückte Menschen, die ihre Sache auf nichts gestellt haben und bei guter Gelegenheit durchbrennen. [Börsenblatt 1872]


Eine solche geradezu hämische Haltung zu einem Handelszweig, der immerhin bereits fast ebenso lange existierte wie Druckereien oder Buchhandel, ist nicht allein zu erklären mit dem Realgehalt der zahlreichen Klagen über windige Kolporteure. Vielmehr verbinden sich hier länger verwurzelte soziale Vorbehalte und aktuelle ökonomische Ursachen zu einem dichten Netz sozialer Minderachtung, mit dem unliebsame ökonomische und ideologische Konkurrenz diskreditiert werden sollte.

Durch die industrielle und demographische Revolution [Nipperdey 1983] der ersten Jahr­hun­dert­hälf­te und die verstärkte Binnenwanderung vom Land in die Städte fanden viele Menschen in den angestammten, handwerklich-bäuerlichen Arbeitsbereichen kein aus­rei­chen­des Einkommen mehr. Dies begünstigte die Entstehung neuer Berufszweige – wie etwa auch den des Kolporteurs bzw. Romankolporteurs. Gleichzeitig wurde der Druck auf jene traditionellen Produktions- und Handelsbereiche immer stärker, die sich bislang noch relativ wirksam gegen das Hereindringen fachfremder Arbeitskräfte hatten abschotten können. Die preußische Regierung reagierte im Jahr 1868 auf diesen demographischen und sozialen Druck mit dem – damals sogenannten – „Notgewerbegesetz“, das zunächst für Preußen und wenig später dann für den gesamten Raum des Deutschen Reiches eine weitgehende Gewerbefreiheit garantierte [vgl. ausführlich Scheidt 1994]. In Sachsen war die Ge­wer­befreiheit bereits einige Jahre früher eingeführt worden, was den sächsischen Kolpor­ta­ge­verlegern einen wertvollen Zeit- und Erfahrungsvorsprung vor ihren Kollegen im restlichen Deutschland sicherte. Für Buchhändler und Drucker hieß das, dass nun auch ungelernte Kräfte sich in diesem Metier betätigen konnten, das noch stark von einem elitär-ständischen Selbstverständnis geprägt war. Das Erscheinungsbild ganzer Berufsgruppen – von den Autoren [vgl. May 1910] über die Hersteller, Drucker, Buchhändler und Verleger bis schließlich zum Lesepublikum –, wurde von nun an zunehmend mitbestimmt von „unzünftigen“ Mitbewerbern und Kollegen, die teils nicht einmal das Alphabetisierungs-, geschweige denn das Literarisierungs- oder Bildungsniveau der Alteingesessenen vorzuweisen hatten [vgl. Spörri 1987].

Gegen diese unliebsame Konkurrenz, die von den Arrivierten und Alteingesessenen – den niedergelassenen Buchhändlern – ironisch als „Notgewerbekollegen“ bezeichnet wurde, kam es von Seiten des Sortimentsbuchhandels immer wieder zu polemischen Attacken. Das Börsenblatt publizierte in diesen Jahren des Umbruchs häufig Beispiele von „Curiosa“, welche die angeblich mangelnden Fähigkeiten oder fragwürdigen Geschäftspraktiken der neuen Kollegen illustrieren sollten. So hieß es [am 23. Dezember] 1868 voller Spott über das bunte Sortiment eines „Notgewerbekollegen“:


In Dresden existirt ein College, dessen Firma bis jetzt wohl nur Wenige kennen; dieselbe verdient aber bekannter zu werden, und darum folgt sie hier: „Ludwig Bratfisch, Buch-, Kunst-, Musikalien-, Nadler- und Spielwaaren-Handlung, Kittanstalt, und Drathflechterei (!)“.


Im gleichen Jahr etablierten sich, ebenfalls in Dresden, zwei weitere „Notgewerbekollegen“ als Kolportagefirma, ein ehemaliger Schneider und ein Ex-Zimmermann: die beiden Brüder Heinrich Gotthold und Fritz Louis Münchmeyer. Der eine soll von sich selbst gesagt haben, dass er zehnmal gescheidter sei als alle anderen Leute [May 1905], dadurch sei auch der andere ein reicher Mann geworden. Tatsächlich firmierte Fritz Louis Münchmeyer eine zeitlang als Gutsbesitzer [Börsenblatt 1870]. Für den sozialen Hintergrund dieses neu entstehenden Kol­por­ta­ge­ge­wer­bes ist jedenfalls die sarkastische Beschreibung, die Karl May in späterer Zeit von seinen beiden Verlegern gab, sehr aufschlussreich:


Dass der „Heinrich“ ein Zimmergeselle und der „Fritz“ ein Schneidergeselle gewesen war, wurde bereits gesagt. Sie stammten vom Lande. Was sie konnten, hatten sie in der Dorf­schu­le gelernt. „Heinrich“ hatte seine weitere Ausbildung, besonders „das Feine“, den da­mals vielgelesenen Kolportageromanen „Die Gräfin mit dem Todtenkopfe“ u. s. w. [Kosch/Nagl 1993 weisen diesen Titel nicht nach!] entnommen. Er hatte auf dem Dorfe Tanzmusik gemacht, Klappenhorn geblasen, Violine gegeigt und einige Zeit beim Militär gestanden. Er strebte sowohl nach Bildung, wie auch nach Geld, besonders durch Kloster-, Gespenster-, Ritter-, Räuber-, Mord- und Liebesromane. Darum wurde er Kolporteur. [May 1905]


Trotz all seiner späten, durch endlose Prozesse bewirkten Distanz des Autors zu seinen früheren Brotherren [May 1905], bleibt doch in diesen und anderen Sätzen auch eine gewisse heimliche Sympathie für deren unbändigen Aufstiegs- und Bildungswillen spürbar, in dem May, der ja gleichfalls die Literatur als Vehikel zur sozialen Promotion benutzte, seine ei­ge­nen Ambitionen wenigstens partiell wiedererkannt haben dürfte. Insofern kommt seinen implizit formulierten Aussagen über die Bildungsvoraussetzungen der Romankolporteure und ihres Publikums sowie über die Vermittlung, Rezeptionsweise (der Kolporteur kennt ganze Reden aus den Romanen auswendig!) und Funktion der Kolportageromane ein bedeutender dokumentarischer Stellenwert zu. May beschreibt implizit wichtige soziale Bedingungen für den Erfolg des neuen Mediums Kolportageroman.

Für die weitere Geschichte der populären Lesestoffe ist besonders interessant, dass mit diesen sozialen Umwälzungen auch eine Textsorte entstand oder doch zu neuen Ehren kam, die sich als Rechtschreib-Spottbrief bezeichnen lässt. Im Rahmen der erwähnten Spott­kam­pagne des Börsenblattes über die Notgewerbekollegen wurden auch immer wieder (Ge­schäfts-) Briefe von Kolporteuren oder kleinen Buchhändlern abgedruckt, deren zum Teil eklatante orthographische, sprachliche u. a. Fehlerhaftigkeit dem bürgerlichen Buchhandel die Unfähigkeit der neu ins Gewerbe drängenden sozialen Gruppen beweisen und zugleich natürlich den eigenen Korpsgeist stärken sollte. Unter der Überschrift „Wie sich ein neuer preußischer Noth-Gewerbe-College über das Colportagewesen äußert“, wurde bei­spiels­wei­se 1868 das reichlich fehlerhafte Schreiben eines Kolporteurs dokumentiert, der sich nach einer bereits mehrjährigen Tätigkeit erstmals mit dem Sortimentsbuchhandel in Ver­bin­dung setzt [Börsenblatt 1868]. Neben diesen realen Briefen mit Rechtschreibmakeln gibt es die literarischen. Auch bei Karl May und zahlreichen anderen Autoren findet sich diese Textsorte des Rechtschreib-Spottbriefes, und zwar nicht zufällig häufig in Kol­por­ta­ge­ro­ma­nen. Im schon öfter erwähnten Verlornen Sohn etwa, der mit seinen vielfältigen Verweisen auf schriftstellerische Profession geradezu als eine Art Karriereentwurf seines Autors gelesen werden kann [vgl. Graf 1994], erhält ein Totengräber den alljährlichen Brief seines Sohnes, der als Hausknecht in der Residenz beschäftigt ist. Der Brief bleibt zunächst ungeöffnet liegen: Da der Schreiber desselben keineswegs zu den ‚Helden der Feder‘ gehörte, und weder der Todtengräber noch seine Frau gelernt hatten, egyptische Hiero­glyphen zu entziffern, so hatten sie sich hierbei stets auf fremde Hilfe verlassen müssen. [May 1884–86] Die mangelnde Lesefähigkeit wird freilich von der Figur nicht eingestanden, son­dern hinter dem Vorwand, die Brille verlegt zu haben, versteckt. May baut den Brief, in dem es von Rechtschreibfehlern nur so wimmelt, komplett in seinen Kolportageroman ein. Wortwahl, Satzstellung und Schreibweise deuten auf einen noch starken Einfluss münd­li­cher, dialektal gefärbter Kommunikation hin [May 1884–86].

Funktion und Wirkung der Rechtschreib-Spottbriefe im Börsenblatt und desjenigen bei May sind allerdings sehr verschieden – schließlich handelt es sich bei dem einen um einen „realen“, bei dem anderen um einen fiktiven Text. Im Börsenblatt wird er als de­nun­zia­to­ri­sches Propagandamittel zur Wahrung der sozialen und ökonomischen Vormachtstellung eines Berufsstandes benutzt, bei May dient er als literarisch-humoristisches Zwischenspiel, ganz ohne bösartige Untertöne, das zudem ein wichtiges Glied in der Handlungs- und Aufklärungskette der Kriminalhandlung darstellt.

Auch Friedrich Gerstäcker hat in seinem Mini-Briefroman Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange (vor 1853), der insgesamt aus vierzehn Briefen von sie­ben Schreibern besteht, vier Briefe verwendet, auf welche die Gat­tungs­be­zeich­nung Rechtschreib-Spottbrief zutrifft.

Dennoch charakterisieren auch die von May geschilderten sozialen Umstände in ihren verschiedenen Komponenten durchaus realistisch den Bildungsstand der Be­völ­ke­rungs­mehr­heit der Zeit: Die beiden Totengräber des Dorfes sind Analphabeten, doch der Schmied, der zu den Bessergestellten der Gemeinde gehört, kann lesen und stellt diese Fähigkeit als Vorleser nachbarschaftlich zur Verfügung. Der als Hausknecht tätige Sohn des schreib- und leseunkundigen Ehepaares zählt zur Generation der Neu-Alphabetisierten, doch sind auch seine in nur wenigen Volksschuljahren erworbenen Fähigkeiten durchaus mangelhaft und gehen über einige Elementarkenntnisse nicht hinaus. Die kleinbürgerliche-proletarische Leserschaft, der May diese Umstände und den Brief in Kolportageheftform präsentierte, konnte darin sicher zu einem hohen Prozentsatz eigene Defizite erkennen – und darüber lachen.

Die Alphabetisierung in Deutschland hatte zu Beginn der 1880er Jahre, als May seine Kolportageromane zu schreiben begann, immer noch keinen solchen Stand erreicht, dass man als Autor überall mit einer allgemeinen und weitgehenden Lese- und Schreibfähigkeit hätte rechnen können. Mangels gesicherter Daten und repräsentativer Untersuchungen sind zwar für den deutschen Sprachraum alle Angaben zum Alphabetisierungsstand zunächst einmal mit Vorsicht zu genießen. Doch auch an diesem Punkt sind die wenigen Daten, die Rudolf Schenda dazu bereits vor dreißig Jahren mitgeteilt hat, bislang nur wenig ergänzt worden. Im deutsch-sprachigen Gebiet (ohne Österreich und Schweiz) gab es 1871 mindestens noch 10% Analphabeten unter den mehr als Zehnjährigen…[Schenda 1977], in Ost- und Westpreußen sogar rund 35%. Bedenkt man neben diesen Analphabetenzahlen die 5 bis 15% Angehörige des (Bildungs-) Bürgertums, die für eine Kolportageromanlektüre kaum in Frage kamen, so verbleiben als potentielle Kunden des neuen Lesemediums für den Zeitraum um 1880 in Deutschland etwa 60 bis 70% der Bevölkerung. Von diesen dürfte allerdings mindestens die Hälfte, mithin etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, zur Generation der Erstalphabetisierten gehören, deren Eltern noch weitgehend Analphabeten waren und die selbst nur wenige Jahre Volksschule genossen hatten. Der Kolportageroman traf also auf ein unzureichend alphabetisiertes, weitgehend illiterates Publikum, das sich sowohl sozial als auch bildungsmäßig in einer Schwellensituation befand: dem Mo­bi­li­täts­druck bezüglich Wohnort und Beruf entsprach ein intellektueller Veränderungsdruck. Stadt und Land, Handwerk und Industriearbeitertum, Analphabetismus und Literarisierung ge­stal­te­ten sich für die meisten Zeitgenossen zu nebeneinander bestehenden Er­fah­rungs­be­rei­chen, deren vielfältiges und komplexes Bezugssystem mit erhöhter Sensibilität wahr­ge­nommen wurde. Dem durchschnittlichen Kolportageromanleser waren mündliche Formen des Erzählens, von der Predigt bis zu Anekdote, Witz und Märchen, noch ebenso vertraut wie gänzliche Schreib- und/oder Leseunfähigkeit. Lese- und Schreibfähigkeit war zwar schon längst kein Privileg einiger Weniger mehr, aber auch längst noch nicht überall selbst­verständliches und allgemeines Kulturgut. Vor diesem Hintergrund bilden die erwähnten Rechtschreib-Spottbriefe eine subtile Form des Analphabetenschwanks [vgl. Moser-Rath 1977], die ihren humoristischen Funken aus einer noch unzureichenden, auf einer frühen Stufe des Lernprozesses verharrenden Alphabetisierung bzw. Literarisierung zu schlagen versuchen.

 

Kolportageromane: Lektüre für Neu-Alphabetisierte

Der ehemalige Fabrikschullehrer May kannte sein Publikum sehr genau – dies dürfte nicht zuletzt ein Geheimnis seines Erfolges gewesen sein. Für die Einschätzung der Kolpor­tageromane als eines neuen Mediums, für das auch in ihrer formalen Präsentation die fließende Grenze zwischen Lese- und Schreibfähigkeit bzw. -unfähigkeit eine konstitutive Rolle spielte, bieten seine Romane reichlich Anschauungsmaterial. Zahlreiche Beispiele aus dem Verlornen Sohn vermögen das zu belegen. Mangelnde Lese- und Schreibfertigkeiten werden dort immer wieder thematisiert, ebenso wie einzelne Gattungen der populären Volkslesestoffe. Der Spulkorb des Webstuhls [May 1884–86], ein Zigarrenkästchen auf dem Balken [May 1884–86] oder das Brett über der Tür [May 1884–86] werden als Aufbewahrungsorte für das Gesangbuch genannt; daneben werden Bibel und Kalender als wichtige Lektüre erwähnt [May 1884–86]. Der Köhler, der von sich sagt Ich lese keine Zeitungen. Ich lebe in meinem Walde und halte es mit meinem Haussegen. Das genügt mir vollständig [May 1884–86], repräsentiert mit seiner Frau – neben dem erwähnten Totengräber – den typischen Hinterwäldler, dessen Lektürekanon ebenso beschränkt ist wie seine Lese- und Schreib­fähigkeiten. May zeigt sich bei seinen gelegentlich kritischen Anmerkungen (etwa zum Traktätchenhändler in „Weih­nacht!“) stets bemüht, das Kind nicht mit dem Bade auszu­schütten, d. h. seine vorsichtige Kritik gilt dem Lesestoff, seine deutliche Sympathie aber den Lesenden. Der Köhlersfrau etwa haben die alten Lieder [May 1884–86] geholfen, trotz elender Lebensverhältnisse ihre Menschenwürde zu bewahren.

In einer längeren, volksaufklärerisch unterfütterten Szene [May 1886–88] seines letzten Kolportageromans Der Weg zum Glück (1887/88) schildert May sogar einige Ursachen und Folgen der mangelnden Alphabetisierung: Der neue Lehrer Walther [May 1886–88] wird zunächst von den Bauern ausgelacht. Doch der Vortrag, den er daraufhin den Vätern am Stammtisch über die Wichtigkeit des Schulbesuchs hält, trägt Früchte. Weil sie nun ernsthaft befürchten müssen, dass ihre Söhne die Abschlussprüfung nicht bestehen, sorgen die Bauern nunmehr (allerdings durch Prügel, was ebenfalls durchaus realistisch ist) für eine gewissenhafte Unterrichtsbeteiligung. Auch die volksaufklärerisch übliche Nutz­an­wen­dung dieser Szene folgt auf den Fuß. Als der Lehrer von der Mittagsschule nachhause geht, begegnet ihm ein junger Telegrammbote, der ihn um Auskunft über den Bestimmungsort der Depesche bittet, denn: Ich kann halt nicht lesen [May 1886–88]. Der Lehrer bekommt das Schreiben zu sehen und erhält auf diese Weise – ganz ähnlich wie schon beim An­al­pha­be­ten-Spottbrief im Verlornen Sohn – einen im Rahmen der Kriminalhandlung wichtigen Hinweis über einen Gegner, der ihm, hätte der Bote lesen können, verborgen geblieben wäre. Die Lesefähigkeit erweist sich in beiden Fällen also als ein sinnfälliges Machtmittel.

Auch die berühmten „Einwortsätze„“ in Feuilleton- und Kolportageroman, die zunächst eine ökonomische Ursache haben und aus der Notwendigkeit erwuchsen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Zeilen und Seiten zu schinden, entpuppen sich vor diesem Hintergrund als brauchbares Stilmittel zur Anbindung frisch alphabetisierter Schichten an das neue Medium: Sie erleichtern dem Anfänger bzw. Ungeübten die Orientierung im Text und die­nen damit dessen Verständnis [May 1884–86]. Die gleiche Funktion erfüllen auch die zahlreichen Briefe, Telegramme, Dokumente, Zeitungsartikel, Zettelnotizen usw., die vor allem in den Kolportageromanen meist komplett abgedruckt werden, obwohl dies für die Handlung meist kaum wirklich nötig ist. In allen diesen Fällen wird aus einem erzählökonomischen Prinzip ein pädagogisches: Der durchgehende Langtext wird immer wieder untergliedert in weitgehend selbständige Untereinheiten, die dem Bedürfnis des weniger geübten Lesers nach einem besseren Überblick und kürzeren Textsegmenten entgegen kommen.

Ganz ähnlich erklärt sich auch die komödien- bzw. theaterhafte Inszenierung [Hügel 1982] der Mayschen Kolportage – im Verlornen Sohn wechselt der Held beispielsweise in einer gro­tesk-komischen Szene auf zehn Seiten insgesamt elfmal Kleidung und Identität [May 1884–86]! Auch damit konnte das neue Medium Kolportageroman anknüpfen an Präsentations- und Rezeptionsmuster, die vielfach im Rahmen des älteren Mediums Volkstheater bereits erprobt und damit bekannt waren. Und der gleichen Regel gehorchen schließlich auch die Illustrationen der Kolportageromane. Die Illustrationen zu den Mayschen Münchmeyer-Romanen, vor allem die zum Verlornen Sohn, wirken auf geschulte Betrachter weitgehend unbeholfen, sind dadurch aber unbewusst recht genau auf das avisierte Publikum zu­ge­schnit­ten. Die erstarrten Posen setzen einmal mehr die übertriebene Gestik und Theatralik des Volkstheaters ins Bild und holen damit bereits anderswo geschulte, im Umgang mit einem anderen populären Medium ausgeprägte Sehgewohnheiten ins Literarische hinein. Die neu-alphabetisierten bzw. -literarisierten Schichten fanden auch in diesen Bildern wieder, was sie von dort oder (in katholischen Gegenden) etwa von Votivbildern kannten: verbindliche Gesten und deutliche Körpersprache, unmissverständliche Haltungen und sich selbst erklärende Figuren – Konstellationen also, für die Sprache zunächst sekundär blieb und reine Begleitfunktion war: für dynamisch ablaufende Belauschungs-, Verfolgungs- oder Prügelszenen. Die Bilder sind um Eindeutigkeit bemüht und stellen die Erklärung ihrer selbst mit dar. Die Bildlegende darunter, meist ein Rudiment aus dem Text, gibt nicht eine zusätzliche Information, sondern wiederholt das für den Betrachter Offensichtliche. Die Illustrationen der Romankolportage sind im Wortsinne ein Stück Lesehilfe; ihr naiver Gestus knüpft an die Ikonographie von ABC-Fibeln und die populäre Gebärdenrhetorik der Moritatentafeln an, die selbst wiederum in mittelalterlichen Freskenzyklen und in der Votivmalerei ihre ikonographischen Vorläufer [Braungart 1985] haben, im Stummfilm ihre Nachfolger.

Der Kolportageroman bot mithin ein ganzes Ensemble von möglichen An­knüp­fungs­punk­ten für die literarischen Erfahrungen eines neu alphabetisierten und kaum literarisierten Publikums. Erzählerische und stilistische, formale und ikonographische Gestaltungsmittel setzten auf einen Wiedererkennungseffekt, der keine geringe Rolle gespielt haben dürfte für den bekannten, durchschlagenden Erfolg der Romankolportage insgesamt: Der Einsatz bekannter Muster erleichterte die kommunikativen Prozesse im Spannungsfeld zwischen mündlich geprägter und schriftlicher Kultur.